"Corona ist die Generalprobe für die globalen Krisen des 21. Jahrhunderts – und sie droht gerade zu scheitern"
"Wann diese Krise zu Ende ist, entscheidet sich nicht in Bern, nicht in Berlin, nicht in Washington. Es entscheidet sich an Orten wie Kano. Rund fünf Millionen Menschen leben in der Stadt im Norden Nigerias. Trotzdem wirkt Kano vielerorts wie ein Dorf. Abertausende dichtgedrängte lottrige Hütten. Kaum Jobs, wenig Geld, ein schwacher Staat. An wenig anderen Orten leben auf so kleinem Raum mehr Menschen in Not. Selbst nigerianische Zeitungen sprechen von der «Welthauptstadt der Armut».
Corona war in Kano lange kein Thema. Doch Mitte April meldeten sich die Totengräber der Stadt zu Wort: Hätten sie bis vor kurzem noch zwei oder drei Gräber pro Tag ausgehoben, seien es plötzlich vierzig. Weil kaum getestet worden war, hatte sich unbemerkt ein Infektionsherd gebildet. Wie viele Covid-19-Fälle die Stadt heute zählt, weiss niemand. Die Dunkelziffer dürfte enorm hoch sein. «Wir sind weit davon entfernt, die Lage unter Kontrolle zu haben», sagte ein lokaler Mediziner unlängst.
Katastrophen trafen immer die anderen – bis Corona kam
Noch mag das, was in Kano passiert, hier nur wenige interessieren. Doch das könnte sich bald ändern: Selbst wenn es in Europa flächendeckend gelingt, das Virus einzudämmen, bleibt die Gefahr eines Rückschlags bestehen, solange dies andernorts nicht gelungen ist. «Wir sind nur so stark wie unser schwächstes Glied», sagt der Uno-Generalsekretär António Guterres. Er hat recht. Ein Virus kennt keine nationalstaatlichen Grenzen. Ein infizierter Reisender kann genügen, um die Uhr im Kampf gegen Covid-19 zurückzudrehen. Wenn man in Kano scheitere, scheitere man in ganz Nigeria, sagt der nigerianische Medizinprofessor Usman Yusuf. «Dann breitet das Virus sich aus auf ganz Westafrika, danach auf ganz Afrika.»
Die Corona-Krise ruft auf schmerzhafte Weise in Erinnerung, dass das, was in weiter Ferne passiert, oft direkte Auswirkungen auf unser Leben hat. Weil ein unbekanntes Virus in Wuhan vor einigen Monaten einen menschlichen Wirt gefunden hat, sitzt noch immer die halbe Welt zu Hause und blickt besorgt in eine ungewisse Zukunft.
Diese globale Abhängigkeit ist eigentlich nichts Neues. Wissenschafter sprechen seit Jahrzehnten von der «komplexen Interdependenz», die Staaten und Menschen – im Guten wie im Schlechten – miteinander verbindet. Bereits 1988 sagte der amerikanische Molekularbiologe und Nobelpreisträger Joshua Lederberg: «Der Erreger, der gestern ein Kind auf einem fernen Kontinent befallen hat, kann morgen eine globale Pandemie auslösen.»
Doch solche Warnungen verhallten. Im Westen erachteten wir Infektionskrankheiten – und Katastrophen im Allgemeinen – immer als Problem der anderen. Klar, es gab auch hier Krisen: Migration, Terrorismus, ein taumelndes Finanzsystem. Doch Ursache und Wirkung lagen zeitlich oft weit auseinander. Und die Folgen blieben überschaubar, für viele waren sie im Alltag gar nicht zu spüren. Weltweite Interdependenz hiess für uns jahrzehntelang fast ausschliesslich Profit. Die damit verbundenen Gefahren blieben abstrakte Theorie – bis Corona kam.
Wie Einzelsportler, die erstmals im Team agieren
Die gegenwärtige Krise ist deshalb ein Weckruf. Sie zeigt, dass unser Wohl mit jenem anderer unmittelbar verknüpft ist. Und dass es uns nicht egal sein kann, wie es den Menschen in anderen Teilen der Welt geht. Wenn die präzedenzlosen Ereignisse der letzten Monate eine Lehre bereithalten, dann ist es diese: Es geht nur gemeinsam.
Das heisst erstens, dass die Lenker der Welt ihre Strategien zwingend koordinieren müssen, um das Virus zu besiegen. Das echte Antidot gegen Epidemien ist nicht Segregation, sondern Kooperation. Es heisst zweitens, dass Solidarität und gegenseitige Hilfe in dieser Krise kein Luxus sind, sondern ein Schlüssel zum Erfolg.
So banal diese Einsicht eigentlich ist – und so dringlich entsprechendes Handeln wäre: Die Welt bewegt sich in die entgegengesetzte Richtung.
Das gilt mit Blick auf die internationale Kooperation: Seit Wochen verhält sich die Staatengemeinschaft wie eine Horde überforderter Einzelsportler, die erstmals an einem Teamwettkampf teilnehmen. Der Uno-Sicherheitsrat befindet sich im komatösen Tiefschlaf. Die Weltgesundheitsorganisation ist angeschlagen und machtlos, die Supermacht USA gefangen im Irrlicht, das vom Weissen Haus weit über Amerika hinaus ausstrahlt. Selbst in der EU herrscht statt Kooperation das Faustrecht des Stärkeren. Fragen, auf die nun entschieden gemeinsame Antworten gefunden werden müssten, bleiben deshalb unbeantwortet. Wie finden wir eine länderübergreifende Balance zwischen Öffnung und Gesundheitsschutz? Wie bewältigen wir die Schuldenkrise, die sich in vielen Ländern anbahnt? Wie werden wir dereinst einen Impfstoff verteilen? Und was braucht es, damit sich diese Katastrophe nicht wiederholt?
Die Welt bewegt sich in die falsche Richtung. Das gilt auch für die internationale Solidarität: Die Uno teilte vor einigen Wochen mit, sie benötige knapp 7 Milliarden Dollar, um die Menschen in den ärmsten Ländern in dieser Krise vor dem Schlimmsten zu bewahren. Das ist nicht wenig Geld, aber doch eine Marginalie verglichen mit den gigantischen Rettungspaketen, die in hiesigen Breitengraden geschnürt wurden. Gleichwohl wurden bis jetzt gerade einmal 1,2 Milliarden Dollar gesprochen. Rufe wie jene aus Kano scheinen in diesen Wochen ergebnislos zu verhallen. Die Stadt kann bis heute maximal 500 Corona-Tests pro Tag durchführen und ist weitgehend sich selbst überlassen. Selbst als der nigerianische Präsident Buhari jüngst sagte, seinem Land mit 200 Millionen Einwohnern fehle schlicht das Geld für den Import von Nahrungsmitteln, um dem vielerorts auftretenden Hunger zu begegnen, blieb ein Echo fast gänzlich aus. «Jeder für sich allein», so tönt der fatale Soundtrack dieser Krise.
Dabei machen doch gerade diese Monate deutlich, dass internationale Zusammenarbeit kein Akt reiner Barmherzigkeit ist, auf den man in schwierigen Zeiten auch einmal verzichten kann. Solidarität ist mindestens in gleichem Masse ein Gebot der Vernunft, weil sie im genuinen Eigeninteresse auch der Geberstaaten liegt. Das wird klar, wenn man sie als eine Art Versicherung versteht. Prävention ist immer kostengünstiger als Kriseninterventionismus. Unsere Gesundheitsversorgung beginnt in Kano. Und in Quito, Manila und Kinshasa.
Kein «schwarzer Schwan»
Der anhaltende Irrglaube, jedes Land könne dieses Virus selbst besiegen, wird in den kommenden Wochen viel menschliches Leid verursachen und diese Krise verlängern. Zugleich lässt er wenig Gutes für die Zukunft erahnen. Denn die gegenwärtige Pandemie ist kein «schwarzer Schwan», kein unwahrscheinliches Jahrhundertereignis. Sie ist in vielerlei Hinsicht ein Vorbote davon, was uns in den nächsten Jahrzehnten erwartet.
Vielen Krisen des 21. Jahrhunderts wird gemeinsam sein, dass sie globale Auswirkungen haben – und deshalb nur staatsübergreifend und solidarisch zu lösen sind. Kein Land allein kann die Klimaerwärmung bewältigen. Kein Land allein kann die Migration steuern, Versorgungssicherheit gewährleisten, Terrorismus bekämpfen, ein stabiles Finanzsystem garantieren. Energiewirtschaft, Cybersecurity und eben: die Gesundheit – alles sind dies Herausforderungen, die nur mit globalen Lösungen zu meistern sind.
Corona ist deshalb auch ein Zukunftstest. Zurzeit deutet fast alles darauf hin, dass wir diese Generalprobe für die kommenden Krisen gründlich verhauen. Umso wichtiger wäre es, die wohl zentrale Lektion dieser Monate zu beherzigen: Die Lösung globaler Probleme bedingt eine Welt, die gemeinsam handelt. Isolationismus und Egoismus lassen die Schwächsten noch schwächer werden – und schaden dadurch allen. Es gibt keine richtige Politik im Kleinen, wenn sie im Grossen die falsche ist."
Der gesamte Text stammt von Fabian Urech - erschienen in der Neuen Züricher Zeitung am 30.5.2020